Demente Heimbewohnerin vor Gericht – warum nicht der Heimbetreiber?

Eine demenzkranke Heimbewohnerin versucht im Affekt ihre bettlägerige Zimmergenossin umzubringen – und kommt vor Gericht. „Muss die Allgemeinheit vor aggressiven Demenzkranken geschützt werden?“, fragt die ‚Süddeutsche Zeitung‘. Doch eigentlich sollten wir uns bei diesem Fall ganz andere Fragen zum Umgang mit dementen Menschen stellen.

In München ist ein Verfahren wegen versuchten Totschlags gegen eine Pflegeheimbewohnerin eingestellt worden. Die an Demenz erkrankte 79Jährige hatte vor 13 Monaten in einem plötzlichen Wutanfall versucht ihre Bettnachbarin mit einem Kissen zu ersticken. Ein Pfleger, der zufällig in der Nähe gewesen war, hatte Schlimmeres verhindern können. Als die Täterin wenige Minuten nach dem Vorfall auch noch versucht hatte, sich mit dem Kabel ihres Notrufknopfes zu strangulieren, rief der Angestellte die Polizei. Die Seniorin war daraufhin in eine psychiatrische Einrichtung verbracht worden. Dies berichtete die ‚Süddeutsche Zeitung‘.

In einem Prozess hatte sich das Oberlandesgericht München I über mehrere Verhandlungstage unter anderem mit der Frage zu beschäftigen, ob von der alten Frau eine Gefahr für die Allgemeinheit ausginge. Die Staatsanwaltschaft hatte ein Sicherungsverfahren beantragt. Die Kammer stellte fest, dass die Seniorin wegen ihrer schweren Demenzerkrankung nicht schuldfähig sei. Sie kann nunmehr die Psychatrie verlassen. Ein Betreuungsgericht muss nun darüber befinden, wo sie künftig untergebracht wird.

Vor Gericht wurde deutlich, dass sich der Gesundheitszustand der demenzkranken 79Jährigen zwischenzeitlich deutlich verschlechtert hatte, so dass sie zu einem neuerlichen, vergleichbaren Angriff körperlich nicht mehr in der Lage wäre. Während der Verhandlung saß die Angeklagte neben der Anklagebank und „konnte dem Geschehen um sie herum nicht folgen“, so ihr Anwalt.

Demenzkrank und im Heim: Wer ist hier gefährdet?

Sicher: Wenn ein mutmaßliches Delikt gegen das Leben eines anderen begangen und angezeigt wird, muss der Staatsanwalt ermitteln. Das ist man dem Opfer der Attacke schuldig. Doch macht es Sinn, dies auch bei eindeutigen Fällen mit schwer demenzerkrankten Heimbewohnern als mutmaßliche Täter mit der üblichen, eher schleppenden Gründlichkeit zu tun? Würde hier – auch angesichts des zu erwartenden gesundheitlichen Verfalls bei der ohnehin unzurechnungsfähigen Angeklagten – nicht ein Schnellverfahren reichen?

Bei einer anderen Frage jedoch sollten es sich Staatsanwaltschaft und Gericht nicht zu leicht machen: Was tun Pflegeeinrichtungen in Deutschland, um Demenzkranke vor sich selbst, und gegebenenfalls voreinander zu schützen? Die Betreiber von Heimen tragen eine Verantwortung für ihre Bewohner. Zu den Aufgaben von Trägern und Angestellten gehört, dass sie der Aufsichtspflicht gegenüber den Schutzbefohlenen gerecht werden.

War die Angeklagte ’normalerweise‘ berechenbar genug?

Im vorliegenden Fall wurde berichtet, der Pfleger wäre nur „zufällig“ [!] zugegen gewesen. So habe er einen möglicherweise tödlichen Ausgang verhindern können. Im Umkehrschluss muss man fragen: Hätte die demente Seniorin in diesem Heim im ‚Normalfall‘ ihre Tat vollenden können? Der Pfleger sagte als Zeuge vor Gericht, dass er die Frau vorher als gutmütig und unkompliziert kannte. Mit einer so plötzlichen Veränderung ihres Wesens infolge der Demenz hätte niemand rechnen können, gab er an.

Dies könnte wahr sein. Wenn es aber eine Schutzbehauptung gewesen sein sollte: Dann wären Obhutspflichten des Heims grob verletzt worden. Ein Straftatbestand. In dem Fall hätten die Leitung bzw. der Träger der Einrichtung auf die Anklagebank gehört. Doch die Berichte der ‚Süddeutschen Zeitung‘ lassen nicht erkennen, dass gegen den Betreiber auch nur ermittelt worden wäre. Warum muss eine unzurechnungfähige, schwer kranke Seniorin vor Gericht gezerrt werden – aber nicht die Chefin ihres ehemaligen Pflegeheims? Wie fahrlässig ist es, einfach davon auszugehen, dass eine fortschreitend Demenzerkrankte harmlos und berechenbar genug bleibt, als dass man sie nicht beaufsichtigen müsste?

Von der „Pflegeversicherung“ vergessen, in Heimen oft vernachlässigt

Als vor 20 Jahren die so genannte „Pflegeversicherung“ eingeführt wurde – es ist in Wirklichkeit nur eine Pflegezuschuss-Versicherung – wurden die Demenzkranken schlicht vergessen. Da sie rein motorisch gesehen meist fit sind, kamen die Schöpfer der Pflegekasse nicht auf die Idee, dass Patienten dieser Gruppe einen besonderen Unterstützungsbedarf hätten. Die Folge: Kein Geld – es sein denn, es kamen andere Merkmale schwerer Pflegebedürftigkeit hinzu. Pflege und Betreuung von Dementen blieb häufig eine Aufgabe von Familienangehörigen. Doch die reiben sich nur allzu oft für orientierungslose Ehepartner und extrem vergessliche Eltern auf. Ist der Burn-Out erreicht, lautet der letzte Ausweg: das Pflegeheim.

„Satt und sauber“ – das ist der Standard, den Pflegeheime unter normalen Umständen bieten können. Eine Rundum-Versorgung ist nicht drin. In dem Heim meines Vaters werden demenzkranke Bewohner tagsüber mit anderen Dementen in einen großen Raum gebracht. Gelegentlich kommen Helfer, lesen vor, machen einfache Spiele. Doch zwischendurch sind die unterschiedlich stark verwirrten Menschen über Stunden sich selbst überlassen – und dem plärrenden Radio im Hintergrund. Das Pflegepersonal schaut gelegentlich kurz rein, wenn es über die langen Flure von Patient zu Patient huscht. Eine demente Frau ist berüchtigt dafür, dass sie immer wieder versucht mit ihrem Rollator ins Treppenhaus vorzudringen, wo sie schwer stürzen könnte. Es gibt Vorkehrungen – aber keine absolute Sicherheit. In vielen anderen Einrichtungen sieht es ähnlich aus.

Das Dilemma der Pflegeheime

Dem Risiko gefährlicher Situationen versucht man mit anderen Mitteln zu begegnen – leider oft auch unerlaubten. Massenhaft erhalten demente Heimbewohner regelmäßig Psychopharmaka und Schlafmittel – nicht, weil es einen medizinischen Grund gäbe, sondern: um sie ruhig zu stellen. Das oft überlastete Personal kann es nicht leisten, ständig davonlaufende oder aggressive Klienten im Blick zu haben.

Eine organisatorische sowie ethische Herausforderung – und ein Dilemma: Die zusätzlichen Betreuer, die die Heime dafür bräuchten, können mit den normalen Pflegesätzen und den Kostenzuschüssen aus der Pflegekasse nicht finanziert werden. Aufpassen wird nicht extra bezahlt.

Richtig schlimm wird es, wenn weitere Mängel im Heim dazukommen, etwa: zu wenig Personal, der Betreiber spart zugunsten der Investoren, organisatorisches Unvermögen, schwarze Schafe unter den Pflegern. Dann sind die Dementen meist die ersten, die übergangen werden: Sie können in der Regel ihre Bedürfnisse nicht oder nur unzureichend äußern. Mögliche, fatale Folgen listet ‚Die Zeit‘ Anfang Juni 2014 auf:

„Oktober 2013: In einem Seniorenheim in Schleswig-Holstein wird ein demenzkranker Mann von einer Ratte angenagt. Er bemerkt es nicht, weil er mit Neuroleptika vollgepumpt ist. März 2014: In einem Pflegeheim in Berlin-Lankwitz duscht ein Pfleger eine demenzkranke Frau so heiß ab, dass sie an ihren Verbrennungen stirbt. In Heimen in ganz Deutschland hungern Demente vor vollen Tellern, weil sie vergessen haben, wie das mit dem Essen geht. Warten Gebrechliche stundenlang darauf, dass sie jemand zur Toilette begleitet. Liegen sich wund.“

Menschenrechtsverletzungen und der Wunsch nach Sterbehilfe

Das sind schwere Menschenrechtsverletzungen. Doch kaum ein konkreter Sachverhalt wird öffentlich, geschweige denn, eine Causa für die Justiz. Auch deshalb wirkt der Fall, über den just in München verhandelt wurde, grotesk. Es muss nicht die Allgemeinheit vor aggressiven Demenzkranken geschützt werden – sondern eher: Die Demenzkranken vor der Allgemeinheit. Die Wahrscheinlichkeit, mit zunehmendem Alter an Demenz zu erkranken, ist so klein nicht. Gegenwärtig gibt es in Deutschland ca. 1,4 Millionen Betroffene. Bis 2050 dürften es mehr als doppelt so viele Menschen sein.

Vor kurzem erlebten wir eine engagierte und insgesamt tiefgründige Debatte im Deutschen Bundestag zum Thema Sterbehilfe. Das Interesse der Gesellschaft an einem würdigen Lebensende für alle scheint groß. Hospizwesen und Palliativmedizin sollen gestärkt werden. Doch wie verhindern wir, dass immer mehr Menschen über Sterbehilfe nachdenken, wenn sie sich die Zustände in deutschen Heimen vor Augen führen – und insbesondere die Lage von dementen Menschen dort?

© Michael den Hoet

Siehe auch:
Leserbrief an die „Süddeutsche Zeitung“ zu diesem Fall
Pflege in Deutschland: Die schleichende Katastrophe
„Pflegeskandal“ auf ‚Wikipedia‘
Interview mit dem Pflegekritiker Claus Fussek: „Pflegediskussion ist Aufforderung zum Suizid“

Literaturempfehlung:
Claus Fussek / Gottlob Schober: Im Netz der Pflegemafia. Wie mit menschenunwürdiger Pflege Geschäfte gemacht werden. München (Goldmann-Verlag), 2. Aufl. (TB) 2009. ISBN 976-3-442-15559-0

ein Kommentar

  1. Der Artikel ist von 2014. Inzwischen hat sich ja zum Glück etwas getan in dieser Hinsicht. Statt der drei Pflegestufen gibt es seit dem 1.1.2017 fünf Pflegegrade. Auch und gerade für Demenzkranke wird mehr getan. Der MD der Krankenkassen beurteilt künftig vor allem die geistige Fitness der Betroffenen, so daß auf ihre Bedürfnisse sehr viel besser eingegangen werden kann. Und endlich! sind auch diese unsäglichen ZeitvorgaBen der einzelnen Tätigkeiten vom Tisch.

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