Vor zwei Jahren steuerte ein tunesischer Terrorist einen gestohlenen LKW in den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche. Der Anschlag offenbarte furchtbarste Lücken in der Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik Deutschland. Niemand übernahm politische Verantwortung.
19. Dezember 2016: Es war 20.02 Uhr, als die Vorweihnachtszeit in der deutschen Hauptstadt abrupt endete. Um diese Zeit fuhr ein Tunesier, der seit Längerem vorgegeben hatte ein Flüchtling zu sein, den schwarzen Lastzug eines polnischen Spediteurs in eine Menschenmenge. Leute, die eben noch an einem der Stände entspannt Glühwein genießen wollten, wurden plattgefahren oder durch die Luft geschleudert. Elf Menschen kamen auf dem Breitscheidplatz ums Leben. Den Fahrer des LKW hatte der Terrorist bereits vorher erschossen, um dessen Transportmittel zur tödlichen Waffe umzufunktionieren. 55 Menschen wurden teils schwer verletzt.

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Bereits die Verwirrung unmittelbar nach dem Attentat zeigte, dass Behörden, Sicherheitsstellen, Journalisten und andere auf ein solches Ereignis denkbar schlecht vorbereitet waren. Rettungskräfte waren recht schnell vor Ort und taten, was sie konnten. Medien, die bisher als seriös galten, spekulierten vorübergehend über einen polnischen(!) Terroristen – obwohl bisher alle LKW-Terrorakte dieses Musters (zum Beispiel in Nizza oder Israel) von Islamisten begangen worden waren. Währenddessen entkam der Täter. Stattdessen wurde ein Mann pakistanischer Herkunft von Menschen und Polizei gejagt, bis er wenige Stunden später im Tiergarten hart überwältigt wurde. Er hatte nichts mit dem Terrorverbrechen zu tun. Erst am übernächsten Morgen fand man den Flüchtlingsausweis des Todesfahrers in der Fahrerkabine. Die Jagd auf Anis A. (ich nenne bewusst nicht seinen vollen Namen) begann. Er bereiste die Niederlande, Belgien und Frankreich, bis er einige Tage nach dem Anschlag in Italien bei einer Polizeikontrolle in Notwehr erschossen wurde.
Der staatliche Umgang mit den Angehörigen des Terrorverbrechens war an Peinlichkeit und Pietätlosigkeit kaum zu überbieten. Eheleute, Eltern und Kinder irrten auf der Suche nach ihren Liebsten durch verschiedene Krankenhäuser, bis sie Rechnungen für Leichenschauen der Gerichtsmedizin der Charité erhielten. Kanzlerin Angela Merkel und andere ranghohe Politiker versammelten sich am Tag nach dem Terrorakt in der Berliner Gedächtniskirche – und verabschiedeten sich in den Weihnachtsurlaub. Einzig der damalige Bundespräsident Joachim Gauck nahm sich im Laufe der Tage nach dem 19. Dezember Zeit, um Verletzte in Krankenhäusern aufzusuchen. Er war auch der Erste, der – einige Wochen später – Angehörige der Ermordeten in seinen Amtssitz Schloss Bellevue einlud. Bei den Schilderungen dessen, was sie durchgemacht hatten, soll er mit den Tränen gekämpft haben.
Bis wenige Tage nach dem Jahreswechsel 2016/2017 hieß es, der Bundestag plane bei seiner ersten Sitzung nach der Winterpause keine Gedenkzeremonie für die Opfer des Terroranschlags. Erst Proteste von Bürgern bewegten den damaligen Präsidenten des Hauses, Dr. Norbert Lammert, einen Trauerakt anzusetzen. Lammert fand am 20. Januar 2017 im Beisein des Bundespräsidenten gute Worte. Er betonte unter anderem:
“Die Erkenntnisse über den Täter, der, obwohl als Gefährder eingestuft, den zuständigen Behörden bekannt, mit zahlreichen falschen Identitäten ausgestattet ungehindert zuschlagen konnte, zwingen uns, die Sicherheitsarchitektur in unserem Land zu überdenken. Der Rechtsstaat ist ja nicht an sich selbst gescheitert, vielmehr hat er seine Mittel offensichtlich nicht ausgeschöpft. Wir müssen organisatorische Fehler und strukturelle Schwächen aufklären und die Konsequenzen daraus ziehen – auf allen staatlichen Ebenen und im Zusammenwirken aller Ämter und Behörden.”
Lammert erinnerte an das Spannungsverhältnis von Sicherheit und Freiheit in einem demokratischen Staat und mahnte:
“Es ist gerade die Stärke unserer herausgeforderten Demokratie, dass wir als Gesellschaft darum ringen, wie wir die schwierige Balance zwischen Sicherheitsanspruch und Freiheitsversprechen halten wollen. Dass darüber besonders intensiv zwischen den Parteien und in den Parteien gestritten wird, muss auch in einem Wahljahr möglich sein.”
Gerade aber bei der politischen Aufarbeitung des Terrorakts versagte das so genannte Spitzenpersonal kläglich. Kanzlerin Merkel führte zwar zwischen dem 27. Januar und dem 17. Februar Frankreichs Präsident Hollande, den ukrainischen Staatschef Petro Poroschenko, Tunesiens Premierminister Youssef Chahed und den kanadischen Regierungschef Justin Trudeau unter regem Medienaufgebot an den Ort des Schreckens. Die unmittelbaren Opfer und ihre Familienmitglieder aber mied sie wie der Teufel das Weihwasser. Während die ausländischen Toten in ihren Heimatländern von jeweiligen Präsidenten namentlich geehrt wurden, blieben die Verstorbenen aus Deutschland lange anonym. Wozu diese Scham?
Offensichtlich war es politisch erwünscht, dass sie schnell vergessen werden sollten. Denn im September 2017 standen Bundestagwahlen an – und die wegen ihrer laxen und völlig konzeptlosen Flüchtlingspolitik umstrittene Merkel wolle sich ungern ihre Wiederwahl durch unbequeme Diskussionen vermasseln lassen. Keine zwei Wochen vor der Stimmabgabe läuteten im Amtssitz der Kanzlerin die Alarmglocken: Zu einer Live-Wahlsendung mit der Ersten Frau im Staate war unter anderem die Sprecherin der Breitscheidplatz-Opfer, Astrid Passin, eingeladen worden. Ihr Auftritt – vereinbart Monate zuvor – wurde verhindert. Nur wenige Stunden vor der Ausstrahlung erhielt Passin einen Anruf des ZDF, mit dem sie kurzfristig aus der Sendung verbannt wurde. Es ist schwer vorstellbar, dass das Kanzleramt nicht eingegriffen haben soll.
Erst zum Jahrestag des Terroranschlags – Merkel hatte sich trotz deftigen Stimmverlusten wieder den Regierungsauftrag gesichert – reagierte die Kanzlerin. Sie eröffnete ein Trauer-Mahnmal auf den Treppenstufen der Gedächtniskirche, setzte eine Betroffenheitsbotschaft mit entsprechenden Fotos auf ihre Website. Mehr Heuchelei geht kaum! Als sie sich schließlich doch bequemte, Opferangehörige zu einem Termin in ihrem Amtssitz einzuladen, musste sie sich viele wütende Worte anhören. Manche der Teilnehmer bekamen anschließend nicht einmal ihre Taxikosten erstattet. Doch es gab weitere Peinlichkeiten: Zu einer interreligiösen Gedenkfeier lud man ausgerechnet einen Imam ein, der wiederholt durch Gewaltverherrlichung und Sympathiebekundungen für Selbstmordattentäter aufgefallen war.
Aber es kommt noch dicker. Während die parlamentarische Aufarbeitung des Anschlags behindert wurde – Beispiel: Der Untersuchungsausschuss des Berliner Senats, wo rot-rot-grün – mit Hilfe der CDU – tricksten um kritische Nachfragen und Anträge von FDP und AfD zu unterbinden – wussten Journalisten bereits Anfang Januar 2017: Der Attentäter nutzte das föderale Behördenchaos in deutschen Asyl- und Ausländerbehörden, um sich in verschiedenen Bundesländern mit Mehrfachidentitäten Gelder und Aufenthaltsverlängerungen zu erschleichen. Insgesamt 13 verschiedene Namen soll er getragen haben. Wie die vor einem Jahr ausgestrahlte TV-Doku “Der Anschlag” (leider nicht mehr online) berichtete, waren fünfzig, nochmal: fünfzig (!!!) deutsche Stellen – Ausländerämter, Sicherheitsbehörden, Polizeidirektionen und andere – mit dem späteren Terroristen befasst.
Allerdings machte keine dieser 50 Stellen ihre Hausaufgaben zu Ende. Zeitweise wurde A. in Berlin observiert – allerdings wegen Personalmangels bei der Berliner Polizei nur werktags bis 19 Uhr. Seinen kriminellen Drogengeschäften ging der Tunesier erst am Abend nach. Für die radikal-islamistische Fusilet-Moschee im Stadtteil Moabit, wo der spätere zwölffache Mörder regelmäßig verkehrte, war längst ein Verbotsverfahren eingeleitet worden. Doch der zuständige Sachbearbeiter war länger krank und sein überarbeiteter Stellvertreter hatte anderes zu tun, als diese Zeitbombe zu entschärfen. Behörden in Nordrhein-Westfalen hatten zwar eine Abschiebung des längst als mutmaßlichen Straftäter bekannten A. beschlossen. Doch die bürokratischen Formalien verschlangen zu viel Zeit – ohne dass der aktenkundige „Gefährder“ in Abschiebehaft genommen worden wäre. Auch in dieser Reportage “Anschlag mit Ansage” von N24 mit Beteiligung von Journalistenkoryphäe Stefan Aust erfährt man weitere Dinge, die erschüttern.
In Deutschland liegt offiziell die Aufklärungsrate für erkannte Morde seit Jahren bei gut 95%. Aber ausgerechnet beim prominenten Breitscheidplatz-Terrorverbrechen bleiben viele Hintergründe weiterhin im Dunkeln. Rücktritte namhafter Politiker oder hoher Beamter – was die politische Hygiene in der Demokratie zwingend geboten hätte – gab es nicht. Ein Resultat unter vielen: Der steile Aufstieg der Protest- und Frustpartei AfD, infolge der wachsenden Politikverdrossenheit. Wenn jetzt, zwei Jahre nach dem Verbrechen, berichtet wird, der Attentäter wäre wohl Teil einer Terrorzelle gewesen, dann muss man sich schon fragen: Was haben die Ermittler in der Zwischenzeit gemacht? Wer im Staate Bundesrepublik Deutschland will verhindern, dass dieser bedeutsame, radikalislamistische Terrormord aufgeklärt wird? Sogar der innenpolitischen Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, Irene Mihalic, platzte angesichts der jüngsten Berichte der Kragen. Gegenüber der ‘Rheinischen Post’ äußerte sie:
“Die Anhaltspunkte mehren sich, dass Amri kein Einzeltäter war, sondern zumindest Mitwisser hatte. Die Einzeltäter-These ist totaler Murks. Doch leider wird alles, was von ihr abweicht, von den deutschen Sicherheits- und Ermittlungsbehörden nicht weiter untersucht.”
Unterdessen plagen sich die Schwerverletzten und betroffene Familienanghörigen Getöteter mit einem schwerfälligen, bürokratischen deutschen Staat herum. Der hält sich strikt an umständliche Entschädigungsregelungen und den dazugehörigen Formalien. Hinterbliebene erleben Spießrutenläufe statt unmittelbarer Hilfe. Seien es Ehemann und Sohn der Tschechin Nada Czismarova, die kaum in einen geregelten Alltag zurückfinden. Oder der polnische Spediteur Ariel Żurawski, der nicht nur seinen Cousin und besten Fahrer, Łukasz Urban, verlor. Der Fuhrunternehmer hatte wegen des neuen, auf Kredit gekauften Anschlags-LKW und drohender Konventionalstrafen wegen der nicht rechtzeitig ausgelieferten Ladung zeitweise Existenzängste. Inzwischen ist er finanziell über den Berg, da der Lieferant des Lastzuges die Leasingraten storniert und der Konzern Thyssen-Krupp auf Schadenersatz für die verrostete Stahlladung verzichtet hätten. Vom deutschen Staat erhielt er lediglich 10.000 €. Die Regierung Polens habe sich da schon großzügiger gezeigt.
‚Spiegel‘-Journalist Jan Fleischhauer verfasste vor einigen Monaten einen einleitenden Kommentar zu einer Recherche zweier Kollegen über Geschädigte des Weihnachtsmarkt-Anschlags. Zu dem Bericht “Terror und Mitgefühl – die vergessenen Toten” schrieb er, nahezu fassunsglos:
“Meine Kollegen Britta Stuff und Wolf Wiedmann-Schmidt haben Überlebende aufgesucht und mit ihnen über das zurückliegende Jahr gesprochen. Das Ergebnis ist eine Geschichte, bei der einem der Atem stockt. Ich bin dagegen, etwas zu leichtfertig als Skandal zu bezeichnen. Ich habe es in dieser Kolumne, glaube ich, noch nie getan. Aber hier ist das Wort ausnahmsweise einmal angemessen.”
Der Fall Breitscheidplatz hat eine extrem skandalöse Vorgeschichte. Unser Staat – die Bundesrepublik Deutschland unter Kanzlerin Angela Merkel – war unfähig und offenbar auch unwillig, die Nachwirkungen in den Griff zu bekommen. Der Umgang der Bundesregierung mit Verletzten und Opferangehörigen bleibt zutiefst unwürdig. Die einzigen sichtbaren Konsequenzen des Terrorverbrechens sind, landesweit, hässlich graue Betonsperren auf heutigen Weihnachstmärkten und dem Zutrittsbereich von Großveranstaltungen. Daher wird uns dieses Ereignis noch lange beschäftigen. Ich bekunde hiermit den Hinterbliebenen, Verletzten und Traumatisierten vom Berliner Weihnachtsmarkt-Terrorverbrechen 2016 mein ausdrückliches Mitgefühl.