Demenzkranke vor Gericht – Leserbrief an die „Süddeutsche Zeitung“

Offenbar in geistiger Umnachtung attackiert eine Heimbewohnerin ihre Zimmergenossin lebensgefährlich. Die ‚Süddeutsche Zeitung‘ berichtet über einen Prozess gegen eine an Demenz erkrankte Seniorin („Kissen-Attacke auf Bettnachbarin“, 4.11. und „Dement, aggressiv, aber nicht mehr gefährlich“, 14.11.2014). Der folgende Leserbrief zu dem Fall wurde ungekürzt am 1. Dezember 2014 in der Regionalausgabe der Zeitung veröffentlicht:
Falsche Konsequenzen

Der Fall einer offenbar unzurechnungsfähigen, 79jährigen Heimbewohnerin in München, die ihre Bettnachbarin beinahe umgebracht hätte, sollte uns in vielerlei Hinsicht zu denken geben. Ein Gericht wird bemüht um aufwändig die Schuldfähigkeit der Seniorin zu beurteilen. Ganz andere Frage sollten uns interessieren: Was tun deutsche Pflegeheime um solche Vorfälle mit bzw. an Schutzbefohlenen zu verhindern? Hätten nicht eher Heimbetreiber oder -leitung vor Gericht gehört? Wie sehr vernachlässigt unsere Gesellschaft die Demenzkranken – eine Gruppe von Pflegebedürftigen, die bei Einführung der Pflegekasse vor 20 Jahren schlicht vergessen wurde? Wie verhindern wir, dass immer mehr Menschen über Sterbehilfe nachdenken, wenn sie sich die Zustände in deutschen Heimen vor Augen führen – wo meist nur Grundpflege, aber fast nie eine umfassende Betreuung gewährleistet werden kann?

Michael den Hoet, Hamburg

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In der gleichen Ausgabe erschien ein weiterer, beachtenswerter Brief.
Leserin Christine Schlather nimmt Bezug auf die Tatsache, dass die demenzkranke Heimbewohnerin nach dem Angriff auf die Zimmergenossin in einer psychatrischen Einrichtung untergebracht wurde. Eine forensische Klinik mit Stacheldraht und dicken Mauern könne kaum die richtige Adresse für einen pflegebedürftigen Menschen in dieser Lage sein. Das Pflegepersonal in einer forensischen Klinik sei „für anderes ausgebildet als Windelwechseln und Füttern.“

Vor kurzem hat der Sozialverband VdK eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht erhoben. Der Vorwurf: in deutschen Pflegeheimen werde zu oft die Menschenwürde von Bewohnern verletzt. Die Leserin stimmt darin ein:
„Im Übrigen zeigt dieser Fall, wie berechtigt die Klage gegen den Pflegenotstand ist. Die offensichtlich aufgewühlte Frau wurde nach der Tat sich selbst überlassen, so dass sie auch noch einen Selbstmord versuchte. Sie hätte gleich beruhigt und begleitet werden müssen. Aber dafür gibt es keine Zeit.“

© Michael den Hoet

Mehr zu dem konkreten Fall, mit Kommentar:
Demente Heimbewohnerin vor Gericht – warum nicht der Heimbetreiber?

Lesetipp:
„Heime sind rechtsfreie Räume“. Interview mit Claus Fussek. Anlass für das Gespräch: In einem Heim bei München wurde eine 92jährige Demenzkranke mit gebrochenem Bein und weiteren Verletzungen in ihrem Bett vorgefunden. Es besteht der dringende Verdacht, dass eine – bisher unbekannte – Pflegekraft dafür verantwortlich ist.

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