Die Flüchtlingskrise beschäftigt uns: Ein großes journalistisches Thema. Dabei überschreiten Berichterstatter zuweilen Grenzen und veröffentlichen beschönigende Reportagen über private Schlepperinitiativen.
Das erste September-Wochenende am Budapester Ostbahnhof: Tausende Flüchtlinge sitzen fest. Sie wollen nur eins: Raus aus Ungarn – weiter nach Österreich, Deutschland oder Schweden. Die hygienischen Verhältnisse sind schwierig, es stinkt, Menschen schlafen zusammengepfercht auf dem Boden. Gelegentlich tauchen Hooligans auf. Zahlreiche Journalisten sind vor Ort. Sie sollen mit professioneller Distanz berichten – und sind doch mitten unter den Menschen. Wie weit darf ihre menschliche Solidarität gehen?

Polizei und Flüchtlinge am Budapester Ostbahnhof (Bild aus einem Bericht des Medienmagazins „ZAPP“ v. 9.9.15, leicht bearbeitet)
Es mehren sich kritische Stimmen, die sagen: in Berichten über die Flüchtlingskrise würde Stimmung gemacht – empathisch zugunsten der Flüchtlinge, aber wenig über die Probleme, die sie mitbrächten. Doch egal, ob man zu einer weicheren oder härteren Haltung in der Asylfrage tendiert: die Menschenschmuggler, die maßgeblich zum Ausmaß der Flüchtlingsströme beigetragen haben, werden als großes Problem gesehen. Mit dem grausamen Fund eines mit Leichen vollgestopften Kleintransporters auf einer österreichischen Autobahn gerieten die Schlepper vermehrt ins Blickfeld der Berichterstattung – zumal, als sich die Lage der Flüchtlinge in Ungarn zuspitzte. Europa leistet sich mit dem Schengen-System Reisefreiheit – aber schafft es nicht, kriminelle Schleuserbanden davon abzuhalten eine weit gehende Kontrolle über europäische Grenzen auszuüben.
Bedenklich wird es, wenn in dieser Lage sogar „Qualitätsmedien“ dazu übergehen, Stories über „Hobbyschlepper“ zu veröffentlichen, die Verwandte oder gar ihnen bisher unbekannte Menschen aus Ungarn herausschmuggeln: Der heimliche Transport ist eine strafbare Handlung. Die Gefahren werden nur angedeutet, konkrete Fallstricke offenbar erst gar nicht vernünftig recherchiert. (Etwa: Die Erfassung aller Autokennzeichen auf Autobahnen in Österreich, die zur Fahndung verwandt werden; das Risiko der verbrachten Personen, nach ihrer Ankunft in Deutschland oder Österreich entsprechend der „Dublin III“-Übereinkunft der Schengen-Staaten in ihr Ausreiseland Ungarn zurückgeschickt zu werden.)
Drei Beispiele einer solchen Berichterstattung:
a) „Wie ich zum Schlepper wurde“ in der „Zeit“ v. 3.9.2015. Autor Robert Misik fährt nach Budapest um sich ein eigenes Bild von der Lage der Flüchtlinge am überfüllten Ostbahnhof zu machen – und wird kurzfristig zum Menschenschmuggler.
„[Hassan] ist hierher gefahren, weil jetzt sein Vater und seine drei Brüder vor dem Keleti-Bahnhof gestrandet sind – drei Kids zwischen sechs und vielleicht 15 Jahren. „Könnt ihr sie mitnehmen?“, fragt Hassan, und lächelt. Anahita sieht mich an. Es ist aber ohnehin klar. Wer hier mit freien Plätzen im Auto wegfährt, braucht morgen nicht mehr in den Spiegel zu schauen.“
Das Spontanvorhaben geht glimpflich ab, und das reicht dem Aktivisten Misik, seinen Erfolg gleich in die Welt – Verzeihung: Die Zeit – hinauszuplappern. Die Leserkommentare sind sehr kontrovers. Gleich mehrere User äußern Sympathie und die Absicht, es Misik gleichzutun und ebenfalls Flüchtlinge aus Ungarn herauszuholen.
b) Der TV-Kurzbericht in den „Tagesthemen“ vom 6.9.2015 „Mit dem Auto aus Österreich – Privatleute als Fluchthelfer in Ungarn“ war kurz nach der vorübergehenden (?) Öffnung der ungarischen Westgrenze für Flüchtlinge zu sehen. ARD-Korrespondenten stellen Menschen aus Deutschland und Österreich vor, die gekommen sind, um zu helfen – illegal. O-Ton:
„Die Fahrer haben sich per Facebook verabredet. Im Knvoi fühlen sie sich sicherer. Denn eigentlich ist das, was sie vorhaben, verboten.“

Fast geschafft! Eine mutmaßlich syrische Familie wartet in Wien auf den Zug nach München. (Bericht Tagesthemen v. 6.9.15, Gesichtsbereich nachträglich verpixelt)
Ein namentlich genannter Fahrer wird bis zum Budpester Ostbahnhof begleitet, wo er zwei Kinder mit ihren Eltern mitnimmt. Eine Aktivistin, die anonym bleiben will, nennt ihr Tun „ein bißchen Zivilcourage“. Die anschließend von ihr nach Wien gebrachte Familie wird gezeigt, wie sie Stunden später mit müden, vorsichtig lächelnden Gesichtern einen Zug nach Deutschland besteigt.
c) Der Tagesspiegel geht am 7.9. einen Schritt weiter. In seiner Reportage „Flüchtlinge in Ungarn – Die Schlepperin von Wittenau“ schildert Autor Mohamed Amjahid, wie Zeynab, eine in Berlin lebende Deutsche libanesisch-syrischer Abstammung, ihr ganzes Geld zusammenkratzt, Kredite aufnimmt und nach Ungarn fliegt, um ihre vier Cousins zu finden. Dort organisiert sie in einer aufreibenden Aktion die illegale Weiterreise der Verwandten nach Deutschland – mithilfe bezahlter Schlepper im Ausland.
Der Bericht ist packend geschrieben. Doch er enthält auch Stimmungsmache zwischen den Zeilen. Beispiel:
„Jetzt hat sie Mohammed und Hisham endlich gefunden, aber es ist noch zu früh, um von einem Happy End zu sprechen. Die Geschichte fängt hier erst richtig an. Eine Geschichte, die zeigt, was die Uneinigkeit unter den EU-Staats- und Regierungschefs, was die Asylpolitik in Europa mit den betroffenen Menschen macht.“
Andere, mögliche Verantwortliche für das Fluchtelend werden ausgeblendet. Das Tun der Schlepper dagegen wird nicht infrage gestellt, ja: positiv geschildert. Zeynab ist die offensichtliche Heldin der bebilderten Geschichte.
Sicher: Das Ideal des rein beobachtenden Journalismus lässt sich nicht immer durchhalten. Oft greifen Berichte in eine bestehende Lage ein – und verändern sie, setzen neue Handlungen in Gang, mit allen Konsequenzen. Verantwortungsvoller Journalismus beinhaltet die besondere Wachsamkeit für den Schutz von Informanten und Menschen, über die man schreibt. Die genannten Berichte – für mich: beschönigende Berichte! – könnten Nachahmer finden, die sich und andere in große Gefahr bringen.
Es wird gemunkelt, dass sich terroristische „Schläfer“ unter die Flüchtlinge gemischt hätten. Wer kann ausschließen, dass sie oder kriminelle Schlepperbanden die Gutmütigkeit von privaten Menschenschmugglern ausnutzen? Niemand. Mit Recht gibt es Tabus in der Berichterstattung. Der journalistische Berufsethos gebietet es, nicht zu verdrängen: Es sind Straftaten, die hier so anregend beschrieben werden. Darf man solche Berichte veröffentlichen?