Samuel Willenberg gestorben – der letzte Zeuge von Treblinka

Auschwitz war die Hölle. Aber es gab eine Steigerung: Treblinka. Von zirka einer Million Häftlingen des NS-Vernichtungslagers im Osten Polens übelebten nur 67. Nun starb der letzte von ihnen

„Was für ein besonderer Mann. Gänsehaut“, twitterte ein niederländischer Journalist seine Reaktion auf die Nachricht des Todes von Samuel Willenberg. Henk van der Aa hatte im Frühjahr 2014 den letzten Überlebenden von Treblinka in seinem Zuhause in Tel Aviv besucht und ein Interview geführt. „Es gibt Menschen, denen man einfach nur gebannt zuhören kann. Samuel Willenberg ist eine solche Person“, beschrieb van der Aa den damals 91-Jährigen in einer Reportage für den niederländischen Fernsehsernder KRO.

Hank van de Aa via Twitter

„Letzter Überlebender von Treblinka ist gestorben. Ich sprach 2014 mit ihm. Was für ein besonderer Mann, Gänsehaut“ – Journalist Henk van de Aa zum Tod von Willenberg

Auschwitz kennt jeder – aus dem Schulunterricht, von Büchern und TV-Reportagen, durch Berichte der wenigen Überlebenden. Doch was die Effektivität des Massenmords anbelangt, kannte die Hölle eine Steigerung: Das NS-Vernichtungslager Treblinka, etwa 130 Kilometer nordöstlich von Warschau gelegen. Wer zwischen Juli 1942 und August 1943 hierher deportiert wurde, überlebte die Ankunft im Lager mit fast hundertprozentiger Sicherheit nur um maximal wenige Stunden. Historiker schätzen die Zahl der in Treblinka ermordeten Juden auf mindestens 750.000. Wahrscheinlich waren es eher eine Million oder gar mehr.

Samuel Willenberg ist 19 Jahre alt, als die Nazis die „Endlösung“ beschließen, den nahezu industrialisierten Massenmord an europäischen Juden. Als im Herbst 1942 der frühere Bewohner des Judenghettos Opatów an der Rampe von Treblinka aussteigt, ruft ihm jemand zu: „Sag, dass du Maurer bist.“ Er meldet sich und wird den wenigen ‚Arbeitsjuden‘ zugeteilt, die in dieser Hölle schuften. Alle anderen 6000 Menschen, die mit dem gleichen Transport ankommen, sind am Abend bereits tot. Schnell erfährt Willenberg: Treblinka ist kein Arbeits-, sondern ein Vernichtungslager. Nur wenige hundert Juden werden vorübergehend am Leben gehalten, um ‚dreckige‘ Arbeiten zu erledigen – und nach einiger Zeit umgebracht und durch andere ersetzt zu werden.

„Ik bin ein Optimist. Ich lebe. Aber Treblinka ist immer bei mir.“ – Samuel Willenberg (Screenshot aus der Sendung ‚Brandpunt‘, niederländisches Fernsehen KRO, 4.5.2014)

Der Massenmord ist durchorganisiert. Täglich kommen über 15.000 Menschen, manchmal 25.000. Sie geben ihre Koffer ab, müssen sich entkleiden und die Haare abschneiden lassen – dann geht es in die Gaskammern. Die ‚Arbeitsjuden‘ müssen alles innerhalb kurzer Zeit wegräumen. Bereits bei Ankunft des nächsten Zuges sollen die Spuren des Grauens von kurz zuvor beseitigt sein.

Eines Tages entdeckt Willenberg beim Aufräumen des Gepäcks der an diesem Tag ermordeten Neuankömmlinge zwei Kleider, die er kennt: Sie gehörten seinen beiden jüngeren Schwestern. Seine Reaktion: „Ich habe nicht geweint. Ich fühlte nur – wie nennt man das noch – Hass. Mein Hass war so groß, dass er die Trauer verdrängte.“ Als er nach dem Krieg seine Eltern wiederfindet, die den Holocaust in einem polnischen Versteck überlebt haben, erzählt er ihnen nicht davon. Samuel Willenberg: „Ich konnte es einfach nicht.“ Er will ihnen die Hoffung nicht nehmen, dass die beiden Kinder überlebt haben könnten.

Zehn Monate ist Willenberg in Treblinka und überlebt damit länger als die meisten anderen ‚Arbteitsjuden‘. Am 2. August 1943 bemächtigen sich eine handvoll von ihnen der Schlüssel für die Waffenkammer. In seinem Buch ‚Ich überlebte Treblinka‘ beschreibt Willenberg Jahrzehnte später den Verlauf der Revolte: „Sie begannen Handgranaten und Waffen aus dem Fenster zu werfen. Unsere Leute auf der anderen Seite riefen: ‚Hurra, Aufstand!'“ Hunderte Häftlinge werden von Maschinengewehrsalven niedergemäht. Er rennt über viele Leichen und entkommt.

Treblinka, Detailzeichnung von Willenberg

Das deutsche NS-Todeslager Treblinka in Nordost-Polen, nachträgliche Detailzeichnung von Samuel Willenberg

Kurz darauf gibt der NS-Staat Treblinka auf – und macht es dem Erdboden gleich. Im Gegensatz zu Auschwitz oder anderen ehemaligen Konzentrationslagern, wo noch heute Gebäude und Grundmauern stehen, gibt es keine baulichen Überreste der wohl effektivsten Todesfabrik des NS-Terror-Regimes. Willenberg schließt sich dem Widerstand an, beteiligt sich am Warschauer Aufstand, dient nach Ende des Zweiten Weltkrieges eine zeitlang in der polnischen Armee. 1950 übersiedelt er mit seiner Frau Ada nach Israel und findet eine Anstellung im Bauministerium. Dutzende Male kehrt er zurück an den Ort, wo einst das Lager stand, zeigt Schulklassen die früheren Plätze des Schreckens.

„Ich lebe. Aber Treblinka ist immer bei mir. Ich erinnere mich an jeden Tag, ich sehe immer wieder die Bilder vor mir“, sagt der letzte Überlebende. Die Erinnerung an das Entsetzen aufrecht zu erhalten – das bleibt Willenbergs Mission. Auch im hohen Alter mutet er sich Ausflüge, Vorträge und die Teilnahme an Gedenkveranstaltungen zu – stets an der Seite seiner Frau Ada. Seine Kraft dazu zieht er aus ihrer Liebe und seinem Optimismus – trotz Treblinka. ‚Schaue auf das, was du hast, nicht auf das Verlorene‘, ist seine Devise. „Ich will nicht schwermütig durchs Leben gehen. Ich genieße, was ich habe.“

Willenberg und eine seiner Treblinka-Skulpturen

Samuel Willenberg und seine Skulptur „Vater, der seinem Sohn beim Schuhe Ausziehen hilft“ – Yad Vashem Website

In späteren Jahren widmet er sich seiner neuen Passion: der Bildhauerei. In fast allen seiner Werke stellt er Szenen aus Treblinka nach, die er selbst gesehen und erlebt hat: „Ich habe einfach widergegeben wie es war. Es gab keine Fotos aus Treblinka. Die Deutschen wollten es nicht.“ Aber an einem Ort in der Welt existieren noch die Bilder von Treblinka: im Kopf von Samuel Willenberg. So gibt er vielen Juden, die er kurz vor der Ermordung kennen gelernt hat, nachträglich eine Identität. Eines der Werke gehört heute zum festen Inventar der Residenz des israelischen Staatspräsidenten. Willenbergs Tochter wird eine namhafte Architektin. Sie baut unter anderem die neue Israelische Botschaft in Berlin.

Wie das Management der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vaschem bekannt gab, starb Samuel Willenberg am 19. Februar in Tel Aviv im Alter von 93 Jahren. Über seinen Tod wurde weitläufig in Israel berichtet. Auch in einigen europäischen Ländern – Polen, die Niederlande, Österreich – wurde das Ableben des letzten Zeitzeugen von Treblinka gemeldet. In Deutschland würdigte immerhin n-tv das Wirken des Verstorbenen. Bei der „Tagesschau“ und „Heute“ hingegen ging die Notiz in der aktuellen Nachrichtenflut unter.

Das ist bedauerlich. Die Erinnerung an den größten Völker- und Massenmord der letzten Jahrhunderte ist eines der wichtigsten Vermächtnisse an Deutschland, Europa und die Welt. Es geht dabei heute nicht mehr um Schuld, aber um Verantwortung. Nicht um das Verweilen im Leid, sondern um Erfahrung. Nicht um das Verharren in der Vergangenheit, sondern um den richtigen Blick in Richtung Zukunft. Es geht um Zuversicht und das Bewusstsein eigener Stärken, trotz oder gerade im Angesicht von Betroffenheit. Wer sich mit der Geschichte des Holocaust auseinandersetzt, ehemalige Konzentrationslager besucht, ist in hohem Maße davor gefeit, ein oberflächlicher Mensch zu werden.

Samuel Willenbergs besonderes Verdienst war es, größte Verbrechen, die vertuscht werden sollten, sichtbar zu machen und anderen die Augen zu öffnen. Er ließ sich nicht brechen, sondern wandelte seine Erfahrung von Tod, Zerstörung und Bedrohung in ein kraftvolles „jetzt erst recht!“ um. Mögen er und andere Holocaust-Überlebende, über den Tod hinaus, weiterhin viele Menschen inspirieren!

Zentralmunument Vernichtungslager Treblinka

Zentrales Monument an der Gedenkstätte Treblinka (CC-Lizenz von ‚Johannes49‘, via Wikipedia)

Links:
‚De laatste getuige‘ (‚Der letzte Zeuge‘), Reportage von Henk van de Aa, Bart Ruijs und Anky Rechess. KRO-Sendung ‚Brandpunt‘, 04.05.2014 (niederländisch)

ZDF Info: Dokumentation „Treblinka – Überleben am Ort des Terrors“ deutschsprachige Fassung (via YouTube), Originaltitel: Death Camp Treblinka: Survivor Stories (2012), zuletzt gesendet auf ZDF Info am 24.01.2016

Nachruf im ‚Donaukurier‘, 21.02.2016

Ausführliches Interview mit Samuel Willenberg und seiner Frau Ada (engl.), mit beeindruckenden Fotos seiner Skulpturen. Website Gedenkstätte Yad Vashem, 2011

Treblinka Death Camp History. The Holocaust Research Project (engl.)

Vernichtungslager Treblinka, Wikipedia deutsch
Extermination camp Treblinka, Wikipedia englisch

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