Mein Unwort des Jahres 2022: „Aktivist“

Seit 1991 kürt eine Jury von Sprachwissenschaftlern und Journalisten das „Unwort des Jahres“. Sie möchte damit auf menschenunwürdige, diskriminierende oder irreführende Begriffe aufmerksam machen, die sich in die öffentliche Diskussion eingeschlichen haben. Die Aktion ist als Appell für einen achtsameren Umgang mit Sprache zu verstehen und weckt regelmäßig viel Interesse. Noch bis zum 31.12. kann man Vorschläge einreichen. Auch mir ist 2022 ein Wort unangenehm aufgefallen. Hier mein Begründungsschreiben an das Fachgremium.

Gerade im vergangenen Jahr wurde die Bezeichnung „Aktivist“ inflationär oft, übertrieben euphemistisch und inhaltlich falsch gebraucht. Sogar viele Journalisten, die ja eigentlich eine Vorbildfunktion in puncto achtsame Sprache haben sollten, verwenden den Begriff vielfach unterscheidungslos für Protestierende aller Art: unabhängig davon, ob sie friedlich demonstrieren und sich dabei an demokratische Regeln halten, ihr Vorgehen verhältnismäßig ist, ob sie sich regelmäßig gezielt gesetzesbrecherisch verhalten oder gar Untergrundaktivitäten entfalten.

Der Ausdruck „Aktivist“ enthält eine Wertung. Allgemein assoziieren wir mit dem Wortbestandteil „aktiv“ etwas Positives und Aufbauendes. Der Duden nennt zu dem betreffenden Adjektiv equivalente Beschreibungen wie „zielstrebig“, „eifrig“, „unternehmend“, „tatkräftig“ oder „in besonderer Weise wirksam“. Jedoch kann davon bei sehr vielen Menschen bzw. Protestgruppen, welche mit dieser wohlklingenden Zuschreibung in der Berichterstattung bedacht werden, überhaupt nicht die Rede sein.

Zu denjenigen, die eine Art Abonnement auf die Bezeichnung „Aktivisten“ haben, gehören etwa die Störer der so genannten „Letzten Generation“. Sie nennen zwar den Kampf gegen Lebensmittelverschwendung und für mehr Klimaschutz als ihre Ziele. Die Wirksamkeit ihrer unangemeldeten, aber PR-artig inszenierten Aktionen – unter anderem durch Bewerfen von Kunstwerken in Museen mit Kartoffelbrei oder Tomatensuppe sowie abgasträchtiger Straßenblockaden mit Hilfe chemischer, umweltbelastender Klebstoffe – muss man auch deswegen infrage stellen, da die Methoden nicht zu den Idealen passen, die sie vorgeben zu vertreten. Was daran „aktiv“ sein soll, zahlreiche Menschen, die zur Arbeit, zum Krankenhaus oder zum Flughafen müssen, kollektiv zur Passivität zu nötigen, erschließt sich mir nicht.

Aber auch andere Gruppen, die ein fragwürdiges bis negatives Verhältnis zu Recht, Gesetz und unsere freiheitliche Gesellschaft haben, werden sprachlich zu „Aktivisten“ geadelt. Einige Beispiele unter vielen: Da spricht tagesschau.de von „Aktivisten der Impfgegner-Szene“. Der Bayrische Rundfunk erwähnt „Neonazi-Aktivisten“, die verbotene Symbole verwendet und Anschläge vorbereitet hätten. Im Zusammenhang mit den kürzlich bundesweit durchgeführten Razzien und Verhaftungen von geistig in alten Zeiten zurückgebliebenen, mutmaßlichen Verschwörern versteigt sich gar der bayrische Verfassungsschutz zu der Formulierung „Aktivisten der Reichsbürgerszene“.

Auch in der Auslandsberichterstattung mutieren inzwischen paramilitärische Verbände oder Terrorverdächtige zu „Aktivisten“. Hier stellvertretend zwei aktuelle Fälle:

* Im Streit um Berg-Karabach droht der nächste Krieg zwischen Aserbeidschan und Armenien. Aserbeidschanische Milizen haben die einzige Zufahrtstraße von der armenischen Exklave zur Republik Armenien blockiert. Die Stuttgarter Nachrichten texten: „Aserbaidschanische Aktivisten blockieren armenische Lebensader“. Sie erwecken damit den Eindruck, als würde es sich um eine Art private Initiative besorgter Bürger handeln. Tatsächlich ist es offenbar ein von der Regierung in Baku lancierter Belagerungsangriff.
* Kurz vor Weihnachten wurden in Paris drei Angehörige der Kurdischen Exilgemeinschaft umgebracht. Die Betroffenheit in Frankreich ist groß; es kam zu Krawallen. Die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo sprach auf Twitter von den Taten als „assassinats commis par un militant d’extrême-droite“. Anstatt dies korrekt mit „Attentaten, ausgeführt von einem militanten Rechtsextremen“ zu übersetzen, macht das Redaktionsnetzwerk Deutschland daraus „Morde, die von einem rechtsextremen Aktivisten [sic!] begangen wurden“. Diese redaktionelle Peinlichkeit ist nicht mangelhaften Französischkenntnissen geschuldet, sondern es ist ganz einfach sehr schlechtes Deutsch.

Der „Aktivist“ ist infoge der massenhaften, irreführenden Verwendung inzwischen ähnlich ‚verbrannt‘ wie der einst so originelle „Querdenker“. Der falsche Gebrauch des Begriffes hat Auswirkungen. Störer der „Letzten Generation“ etwa fühlten sich lange durch die Positivbezeichnung in der Berichterstattung so sehr geschmeichelt, dass dies ihr Unrechtsbewusstsein für die Strafbarkeit ihrer Handlungen durchaus trübte. Längst haben sie sich bei Volk, Staatsanwaltschaften und quer durch die Parteien sehr unbeliebt gemacht. Manche von ihnen verstehen nun die Welt nicht mehr und reagieren umso trotziger. Beobachter befürchten, dass sich die Bewegung radikalisiert.

Der zur Worthülse verkommene „Aktivist“ ist inzwischen ein Kennzeichen geworden für einen Mangel an journalistischem und politischem Unterscheidungsvermögen. Die Negativehrung zum „Unwort des Jahres“ 2022 könnte einen Beitrag dazu leisten, mit Sprache achtsamer umzugehen und insbesondere Journalisten veranlassen, sich wieder vermehrt einem objektiveren, neutraleren Sprachgebrauch zuzuwenden.

Link: Unwort des Jahres – Kriterien und Auswahlverfahren

Machten sich bei einer Aktion während eines Konzerts in der Hamburger Elbphilharmonie zum Gespött des Publikums: Störer der „letzten Generation“, die sich an einen herausnehmbaren Haltebügel am Dirigentenpult festgeklebt hatten und vom Hausmeister in einen Vorraum gezogen wurden. Bearbeitetes Foto via Twitter.

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