In der aktuellen Flüchtlingskrise gehen die Emotionen hoch. Die Fotos eines syrisch-kurdischen Kleinkindes an einem türkischen Strand, das bei einem Fluchtversuch seiner Familie ertrank, wurden in ganz Europa verbreitet. Unter Journalisten löste dies eine Debatte aus: Darf man so etwas zeigen? Was ist die eigentliche Botschaft hinter diesem traurigen Bild?
In einem Gastbeitrag für Meedia.de schrieb der frühere GEO-Chefredakteur und Vorstand von UNICEF Deutschland, Peter-Matthias Gaede, einen insgesamt sehr lesenswerten Kommentar.
Bei einem Punkt seiner Deutung des Fotos indes sah ich mich genötigt zu widersprechen. Ein sensibler Fall zum Thema journalistisches Berufsethos. Hier meine Stellungnahme:

Der 3jährige Junge aus der syrisch-kurdischen Stadt Kobane wurde Anfang September tot am Strand des türkischen Badeortes Bodrum gefunden. (Foto: DHA: Bild leicht verpixelt)
„Eine legitime Meinung bei einem Foto, das durchaus einen journalistischen Grenzfall markiert. Wichtig ist bei dem schockierenden Bild – das auch mir einen Stich ins Herz versetzt – sich nichtsdestotrotz der potenziell manipulativen Wirkung bewusst zu sein. 1963 soll das Foto des”brennenden Mönchs” Thích Quảng Đức den damaligen US-Präsidenten John F. Kennedy dazu bewogen haben militärisch in Vietnam einzugreifen: eine Entscheidung mit weit reichenden Folgen, wie wir heute wissen. Kennedy damals: “Kein Pressefoto hat weltweit mehr Gefühle ausgelöst als dieses hier.”
Das traurige Bild des toten Jungen am Strand war gestern groß auf den Titelseiten der meisten britischen Zeitungen abgeduckt. Noch am selben Tag deutete Premierminister Cameron ein Umdenken seiner Regierung in der Flüchtlingspolitik an. Auch hier zeigt sich: Das Foto hat Wirkung.
In diesem Zusammenhang möchte ich Fragen aufwerfen:
1. Was ein Foto auslöst, hat viel mit den Prägungen des jeweiligen Betrachters zu tun, aber auch mit den Hintergrundinformationen und Meinungen, die zusammen damit präsentiert werden. Ist die Interpretation eines Fotos immer so eindeutig, wie es der Kommentator dem Leser suggerieren will?
Sie schreiben: “Es ist ein stilles Bild, es ist ein andächtiges Bild, es diffamiert nicht das Opfer, sondern die Flüchtlingspolitik der EU.”
Ganz ehrlich: Hier schwillt mir der Kamm. Weder unsere Bundeskanzlerin Merkel, noch Mr. Cameron, noch der umstrittene ungarische Ministerpräsident Orbán haben den Schlepper ausgesucht, der erst die Familie des Jungen für viel zu viel Geld in ein völlig fluchtuntaugliches Schlauchboot gesetzt hat – aber bei aufkommenden Sturm einfach davonschwamm und die Flüchtlinge ihrem Schicksal überließ. Er ist der Mörder. Und nicht Politiker der EU-Staaten – auch wenn sie zugegebenermaßen in der aktuellen Krise nicht gerade heldenhaft agieren.
Ein Helfer trägt die Leiche eines 3jährigen Jungen vom Strand, dessen Familie mit einem überfüllten Flüchtlingsboot gekentert war. (Foto: AP; Bild leicht verpixelt)
Andere würden eher den syrischen Diktator Assad moralisch für den Tod des Jungen verantwortlich machen. Oder die IS-Terrorkämpfer, die Kobane – die Heimatstadt des verstorbenen Jungen – in Schutt und Asche legten. Oder den türkischen Präsident Erdoğan, der gerade kurdische Syrien-Flüchtlingen verstärkt spüren lässt, dass sie ihm zurzeit in seinem Land nicht willkommen sind. Oder die reichen Ölstaaten in der Nähe, die – ungeachtet ihrer häufigen Beteuerungen der arabischen Solidarität – bisher null, ich wiederhole: null Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen haben.
Warum wird erwartet, dass der europäische Betrachter “Betroffenheit” mit “Mitschuld” verwechselt?
Sicher: Der Journalist muss seine eigenen Auffassungen nicht verleugnen. Aber er soll dem Leser bzw. dem Betrachter bei aller Information, die er bietet, die Freiheit lassen sich seine eigene Meinung zu bilden.
2. Wer sich tapfer dem Schockfoto vom Strand in der West-Türkei stellte, möge sich bitte auf Twitter kurz das folgende anschauen: https://twitter.com/Juliet777777/status/639652027857932288.
Hier sind gleich mehrere, teils blutüberströmte tote Kinder zu sehen: mutmaßlich Angehörige christlicher Minderheiten im Nahen Osten – in einem von IS bestzten Gebiet in Syrien?
Die Angaben im Tweet vermag ich weder zu verifizieren noch zu widerlegen. Aber wird hier nicht überdeutlich, dass in Zeiten großer Konkurrenz an Information die Auswahl und Art der Präsentation von Schockfotos die Agenda bestimmen? Zugespitzt gefragt: Warum werden andere Untaten, beispielsweise die gegen christliche Minderheiten im Nahen Osten, kaum abgebildet – gegen jene, die uns gerade doch kulturell besonders nahe stehen müssten?“