Fahrradhölle Hamburg: Todesfalle Rechtsabbieger

Während die Politik das Ziel „Fahrradstadt“ proklamiert, kommt es auf den Straßen Hamburgs weiter zu verheerenden Unfällen, in die Radfahrer verwickelt werden. Vor wenigen Tagen starb eine 19-jährige Frau an einer belebten Kreuzung im Stadtteil Eilbek, nachdem ein LKW sie mehrere Meter mitgeschleift hatte. Der Fall schlug hohe Wellen.

Weil ich mich über eine Aussage eines ADAC-Sprechers im Abendblatt-Artikel „Wie viele Radfahrer müssen noch sterben“ wunderte, habe ich ihm eine Mail geschrieben:
„In einem Bericht im „Hamburger Abendblatt“ von heute nehmen Sie als Pressesprecher des ADAC Schleswig-Holstein zu einem Unfall in Hamburg-Eilbek Stellung, bei dem eine junge Radfahrerin von einem nach rechts abbiegenden LKW erfasst wurde und starb. Es heißt dort u. a.:
„Ulf E[…]. vom ADAC Schleswig-Holstein sieht dagegen sehr wohl auch Fußgänger und Radfahrer in der Pflicht. „Wir haben die Problematik des toten Winkels“, sagt E. „Es gibt einfach Bereiche, die ein Fahrer nicht über­blicken kann.“ Daher würde auch eine flächendeckende Ausstattung der Fahrzeuge mit Abbiegeassistenten keine hundertprozentige Sicherheit bringen…“

Ich gehe mal davon aus, dass Ihre Stellungnahme – die von manchen so aufgefasst werden könnte, als hätten Fußgänger und Radfahrer eine Mitverantwortung bei Unfällen druch Rechtsabbieger – hier etwas unglücklich widergegeben worden ist. Die Schuldfrage ist eindeutig: Fußgänger und Radfahrer haben gegenüber dem nach rechts einfahrenden Auto immer Vorfahrt. In dem vorliegenden Fall hatte der LKW zunächst kurz angehalten, weswegen die vorfahrtberechtigte Radfahrerin davon ausgehen konnte, dass der Fahrer sie bemerkt hätte (siehe http://www.mopo.de/…/horror-serie–drei-schlimme-unfaelle-i…). Sie hatte offenbar ihrer „Sorgfaltspflicht“ Genüge getan. Genutzt hat es ihr nichts: Wenige Minuten später war sie tot.

Kreuzung Wandsbeker Chaussee/Ritterstraße in Hamburg (Quelle: Google Earth)

Kreuzung Wandsbeker Chaussee/Ritterstraße: Trotz Vorfahrt hatte die Radfahrerin keine Chance (Quelle: Google Earth)

Es bleibt festzustellen: Rechtsabbieger waren, sind und bleiben Gefahrenquelle Nr. 1 für den Radfahrer im deutschen Straßenverkehr. Die meisten Todesopfer unter ihnen gibt es nach wie vor an Kreuzungen und Einmündungen, wo sie, geradeaus fahrend, eigentlich Vorfahrt haben bzw. gehabt hätten. Wechselt man die Perspektive, kann man wiederum aus Sicht des Autofahrers sagen: Nirgendwo wirkt sich eine kleinste Unaufmerksamkeit so verhängnisvoll aus wie an der Kreuzung, mit geringer Geschwindigkeit, beim rechts abbiegen. Ergo: Beide Seiten sollten ein sehr triftiges Interesse daran haben, dass sich hier die Sicherheitslage bessert.

Was mich bei Berichten und Diskussionen über Gefahren im Straßenverkehr immer wieder stört, sind die oft reflexhaften Schuldzuweisungen der verschiedenen Verkehrsteilnehmer in Richtung der jeweils anderen. Ob als Fußgänger, Radfahrer oder Auto lenkendes ADAC-Mitglied: Ich erlebe immer wieder den allgemein rauhen Umgang der Verkehrsteilnehmer in Hamburg, wenn sie sich untereinander in die Quere kommen. Und das passiert hier in der Hansestadt leider viel zu oft.

Doch die Ellenbogenmentalität ist kein ausschließlich individuell gehäuftes Problem. Nein, sie hat in Hamburg vor allem mit einem jahrzehntelangen Versagen der Verkehrsplanung zu tun, das bis heute Fußgänger Rad- und Autofahrer in ständige Konkurrenzsituationen gebracht hat – auch dort, wo es baulich gut möglich gewesen wäre, ihre Wege klar voneinander zu trennen. Ob auf schmalem Radweg neben dem Bürgersteig oder Fahrradstreifen auf der Straße: Es ist oft nur ein dünner – nicht immer gut sichtbarer – Strich, der den Sicherheitsabstand zueinander markieren soll. In der Praxis des hektischen Großstadtverkehrs funktioniert das mehr schlecht als recht. Und der Radfahrer steht in der Mitte – ohne Knautschzone nach beiden Seiten. Zudem ist die Hamburger Polizei zu überbeschäftigt, als dass sie für Verkehrsverstöße gegenüber Radfahrern (z. B. zugeparkte Radwege) viel übrig hätte.

Im Zuge gut gemeinter politischer Bemühungen, Hamburg von einer Fahrradhölle zur „Fahrradstadt“ zu machen, hat man in den letzten Monaten angefangen, vermehrt Radwege auf Straßen zu verlagern. Das mag hier und da zu Verbesserungen führen, schafft aber wiederum neue Herausforderungen: Im Zuge des gestiegenen Online-Handels werden sie nur allzugern von Paketdiensten als Parkfläche genutzt, Bushaltestellen sind radwegfreie Zonen und manche Kreuzungen erinnern mit Orgien von Strichen und Pfeilen in alle Richtungen eher an ein Burda-Schnittmuster als an Orientierung im Straßenverkehr. Gerade dort kommen sich nun Radfahrer und rechts abbiegende LKW-Fahrer noch näher, wechselt der Radler vom seitlichen toten Winkel in die Grausichtzone unterhalb der Spiegelhöhe. Kindern möchte man hier nicht das Radfahren beibringen!
In Kiel, wo ich bis 2002 wohnte, hat man viel früher angefangen, es besser zu machen.

Bericht in der „Hamburger Morgenpost“ vom tödlichen LKW-/Fahrradunfall im Stadtteil Eilbek, 12.10.2016

Meine Bitte an Sie als Sprecher eines einflussreichen Autofahrer-Verbandes: Es geht nicht darum, den einen Verkehrsteilnehmer gegen den anderen auszuspielen und mehr Räume jeweils für sich zu reklamieren. Wie wäre es, wenn Sie in Zukunft bei Ihrer Pressearbeit verstärkt versuchen der Sichtweise „wir sitzen alle in einem Boot“ Ausdruck zu verleihen? Jede Verbesserung der Sicherheit für Fußgänger und Radfahrer ist auch ein Gewinn für den Autofahrer! Dies gilt ebenso für Überlegungen in Richtung von Abbiege-Assistenzsystemen für Lastkraftwagen (wie sie etwa der Radfahrer-Verband ADFC fordert).

Eigentlich müsste doch gerade ein Autolobbyist froh sein über jeden Radfahrer mehr in der Stadt: Denn der beansprucht weniger Raum. Jeder, der aufs Fahrrad statt ins Auto steigt, lässt den anderen Autofahrern jeweils fünf bis acht Quadratmeter mehr Straße übrig. So gesehen, sollten sich Rad- und Autofahrer nicht als Gegner, sondern mehr als Kollegen im Straßenverkehr betrachten.

Mit freundlichen Grüßen und Dank für Ihr geduldiges Lesen
Michael den Hoet, Hamburg“

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Zwei Stunden später rief mich Herr E. an und bedankte sich ausdrücklich für meine Mail, die ihm gefallen habe. Er sagte, dass seine Aussagen in der Tat verzerrt wider gegeben worden sei und er bei solchen Meldungen zuerst immer an seine Kinder denken müsse, die in einem vergleichbaren Alter seien. Und: Er habe in den letzten Stunden schon zahlreiche aufgeregte Mails bekommen, die nicht gerade von einem freundlichen Sparchstil geprägt gewesen seien…

Anmerkung: Wer sich das Foto der „Hamburger Morgenpost“ vom Unfall verursachenden LKW genau anschaut, bemerkt:
1. Das Fahrzueg war mit einem zweiten, sog. „Rundumspiegel“ ausgestattet, der auch den „toten Winkel“ weitgehend erfassen kann. Zudem verfügte der Lastwagen über einen Anfahrspiegel der Klasse V.
2. Das rechte Seitenfenster ist so hoch, dass sich ein Mensch bzw. ein Radfahrer daneben aufhalten kann, ohne direkt vom Fahrer gesehen zu werden. Die neueste Straßenbaumode in Hamburg besteht darin, möglichst viele Radwege auf Straßen zu verlegen. Das kann für Radfahrer an manchen Kreuzungen gefährlicher werden als vorher: Sie sind dann einem solchen fahrenden Koloss noch näher; die Reaktionszeit im Falle unerwarteter Lenkbewegungen des Rechtsabbiegers verkürzt sich.
Meine Forderung an die Lastwagenbauer lautet daher: Sereinmäßiger Einbau von Abbiege-Assistenzsysteme und mehr durchsichtige Beifahrertüren – ähnlich wie bei den meisten Stadtbussen. Bei Fahrten in der Stadt wäre es gut, wenn wieder mehr Beifahrer im LKW Platz nähmen.

Nachtrag 16.10.: Für die britische Hauptstadt London möchte der neue Bürgermeister Sadq Khan ein Fahrverbot von großen Lastwagen mit schlechter Rundumsicht durchsetzen. Der Hintergrund: 58% der in den Jahren 2014 und 2015 im Stadtverkehr getöteten Radfahrer waren in Unfälle mit großen LKWs – so genannten heavy goods vehicles (HGVs) – verwickelt.

3 Kommentare

  1. Monika Brand · · Antworten

    Der LKW Fahrer soll endlich mal zugeben, dass er komplett geschlafen hat und mit irgendwas total abgelenkt war. Wir sind ja alle Autofahter und wir wissen doch alle, dass man den kleinsten Stoß war nimmt. Er aber wiederum schleift Sie noch 10 Meter mit. Das soll er mir mal erklären, wie man das so lange nicht merken konnte. Diese 19 jährige Radfahrerin war meine über alles geliebte Tochter. Sie war ein so liebes Mädchen. Sie hat so einen grausamen Tod ja nun wirklich nicht verdient. Sie hatte Ihr ganzes Leben noch vor sich. Sie war noch so jung. Wir alle sind noch so unsagbar traurig und können das alles nicht verstehen. Ich hoffe nur so sehr, dass der LKW Fahrer seine gerechte Strafe bekommt. In meinen Augen hat er mein Kind regelrecht umgebracht. Sie einfach umgefahren und mitgeschliffen. Ich habe seid dem die schlimmsten Alpträume.

    1. Vielen Dank für Ihren offenen Worte, die mich sehr berührt haben.
      Wie Sie sicher mitbekommen haben, war die öffentliche Bestürzung über den furchtbaren Unfalltod ihrer Tochter groß – insbesondere bei Radfahrern bzw. in Kreisen der Fahrrad-Aktivisten. Möge jeder Mensch, der sie gekannt hat, sie in Erinnerung behalten und durch sie ihr Vernächtnis weiterleben!

      Es bleibt die Frage nach Konsequenzen.
      Mit Ihnen hoffe ich auf ein gerechtes Urteil gegen den LKW-Fahrer, der eindeutig die Vorfahrt missachtete. Ebenso ist es nur schwer zu ertragen, welchen großen Gefahren Radfahrer in Hamburg ausgesetzt sind – insbesondere durch „Gütertransport-Panzer“, die hier in hoher Zahl unterwegs sind. Hier muss auf verschiedenen Ebenen (LKW-Sicherheitsausstattung, Verkehrsplanung, Achtsamkeit der Verkehrsteilnehmer, Fahrverbotszonen wie z. B. gerade in London beschlossen) mehr getan werden. Seien Sie gewiss, dass ich zu denen gehöre, die das im Auge behalten und sich gelegentlich einmischen werden.

      Ich fühle mit Ihnen!
      Mit besten Wünschen
      Michael den Hoet

  2. Hallo.
    Mein Beileid. Der Hoffnung auf ein gerechtes Urteil schließe ich mich an.

    Mein Rat: Versuchen Sie, sich zu wappnen. Denn die Hoffnung ist gering. Leider tut die Justiz sehr wenig, um derartigen Unfällen mit Todesfolge angemessen und damit auch präventiv zu begegnen.
    Der Straßenverkehr ist auch dank der Justiz weitgehend zum rechtsfreien Raum geworden. Statt des Herrschaft des Rechts, der Grundlage der Zivilisation, gilt im Straßenverkehr die Macht des Stärkeren.

    Opfer werden deshalb zumeist diejenigen, die überall im öffentlichen Raum auf zivilisierte Umstände, d.h. auf die uneingeschränkte Geltung des Rechts (auch für die ’starken‘ Verkehrsteilnehmer wie Lkw-Fahrer) angewiesen sind: Frauen.

    Frauen müssen für ihre Bewegungsfreiheit die uneingeschränkte und durchgehende Geltung der Gesetze voraussetzen. Dies ist jedoch im Straßenverkehr als Radfahrerinnen ein fataler Fehler.

    „Die BASt (Bundesanstalt für Straßenwesen, Bundesministerium für Verkehr) stellt in ihrer Untersuchung

    “Gefährdung von Fußgängern und Radfahrern an Kreuzungen durch rechts abbiegende Lkw”

    von 2004 im Kap. 4.2.3 fest:

    ‚Die in die untersuchten Unfälle verwickelten ungeschützten Verkehrsteilnehmer waren zum großen Teil Radfahrer (78 von 90, Bild 42) und stammen aus allen Altersklassen, Bild 43.

    Das weibliche Geschlecht ist bei den Fußgängern/Radfahrern deutlich häufiger (> 60 %) als das männliche vertreten, Bild 44. Diese Verteilung von etwa 1 : 2 (Männer : Frauen) entspricht nicht der in der amtlichen Statistik ausgewiesenen Verteilung für Radfahrer (etwa 2 : 1).‘

    Frauen als ungeschützte Verkehrsteilnehmer unterliegen demnach einer ca. 4mal höheren Wahrscheinlichkeit als Männer, von einem Lkw überfahren zu werden . Das ist verblüffend und alarmierend, denn bekanntlich neigen Frauen weniger zum Risiko als Männer und sind deshalb in den Verkehrsunfall-Statistiken unterrepräsentiert.“

    Aus meinem Post: Lkws und Rafahrerinnen. Eine unheimliche Singularität.

    https://radverkehrhamburg.wordpress.com/2016/02/09/lkws-und-radlerinnen-eine-unheimliche-singularitat/

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