Zeit verschwenden, Banales senden: Das RTL-„Dschungelcamp“ geht ins zehnte Jahr. Ein TV-Format appeliert an niedere Instinkte der Zuschauer – und die Medien machen kräftig PR dafür. Letztlich ist die Sendung ein Angriff auf unsere zivilisierten Werte. Eine Glosse.
Das Titelblatt – ich übersehe es. Eigentlich habe ich auf das kostenlose Fernsehprogramm für die nächste Woche spekuliert, das der Freitag-Ausgabe einer 70 Cent günstigen Hamburger Tageszeitung beiliegt. Die Strafe für meinen unbedachten Kauf folgt auf dem Fuß: „‚Dschungel‘-Star Kim Gloss – Ihr Ex ist ein Prügel-Lude“, prangt die Schlagzeile, weithin sichtbar, neben montierten Fotos.

Nur nichts verpassen: Auch der Focus ist dabei (Screenshot 20.1.14)
Hmm, schnell umdrehen, die Zeitung. Es hilft nichts.
„Ex-Dschungel-Star Patrick Nuo (31) geht jetzt kellnern. Unterhaltszoff mit seiner Ex: Sie fordert 18 000 Euro – er verdient 1500 Euro“, ist auf der letzten Seite, ebenfalls in großen Lettern, zu lesen. Doch auch der Inhalt des Blattes ist madig, buchstäblich. Auf den Seiten 10 und 11 folgen kulinarische Tipps der besonderen Art. „Maden-Snacks jetzt auch für zu Hause. Stefan K… bietet Insekten zum Knabbern an – wie im Dschungel-Camp.“ Dort erfährt der Leser von dem neuen Nebenerwerb eines 43-jährigen EDV-Spezialisten, der seit einem Jahr einen Online-Shop für frittierte Mehlwürmer, Heuschrecken und Schwarzkäferlarven betreibt. Ein Info-Kasten verrät: „So gesund sind Insekten“. Und, ach ja, der Anlass für den Bericht steht ganz oben: „Heute startet die 8. Staffel der Ekel-TV-Show.“
Das „Dschungelcamp“ – man entkommt ihm nicht leicht dieser Tage. Früher konnte Otto Normalbürger noch sagen „Ich bin kein Narr – schalt‘ den Kasten aus“. Der verursachende Sender musste das Format auf die eigene Kappe nehmen. Sprich: Die PR organisieren und dafür zahlen – selber schuld, RTL.
Früher. Da protestierten noch Tierschützer, die Kirchen, Politiker. Die Landesmedienanstalten äußerten schwere Bedenken wegen des Jugendschutzes. Prominente entrüsteten sich öffentlich. Dass die Bild bald auf den Dschungelzug aufsprang und seitdem gerne auf der Titelseite Larven zu Elefanten macht: Gut, damit konnte man rechnen. Doch mit den Jahren schienen gerade die lauten Gegner das Renommee der Show zu stärken. Jede neue Staffel wurde zum Medienereignis – lange, bevor die erste Kakerlake gegessen und die erste Zicken-Beleidigung ausgesprochen war. Vor einem Jahr schließlich eine Art Ritterschlag: „Ich bin ein Star – holt mich hier raus!“ wurde für den Grimme-Preis vorgeschlagen – wegen der „Moderationsleistung“ sowie das Kennenlernen von „Menschen in all ihren Stärken und Schwächen“.
So ändern sich die Zeiten. Früher galt es als unanständig, Tiere ohne Not zu töten. Heute weiß man: Es müssen schon mehrere Dutzend gegrillte Insekten ihr Leben lassen, bevor sich Ansätze von Sättigungsgefühl einstellen. Früher konnte man mit Komplimenten und Höflichkeit punkten. Heute gilt: Je derber die Beleidigung und je peinlicher die Ausdruckweise, desto höher die Quote. Früher beeindruckten Damen mit Stil und natürlicher Ausstrahlung. Heute geht es nicht ohne ein „Luder“ oder eine „Zicke“ im „Team“ – am besten mit viel Silikon unterhalb der prallen Botox-Lippe. Früher war Abenteuer etwas, das man nicht planen konnte. Heute wird nichts dem Zufall überlassen: Jeder Quadratdezimeter des vermeintlichen australischen „Urwalds“ ist gestaltet und ausgeleuchtet. Früher war unsere Freizeit rar und wollte gut genutzt sein. Heute weiß man die begrenzte Lebenszeit immer weniger zu würdigen – und schaut Dschungelcamp.
Nun könnte man meinen: Viele Drogen sind längst legalisiert – allen Nebenwirkungen zum Trotz. Auch wenn frühere Kulturkoryphäen im Land der Dichter und Denker in ihren Gräbern rotieren: Wir leben in einem freien Staat! Solle sich jeder doch so viel TV-Trash ausliefern, wie er nur aushalten kann! Selbstverständlich hat er das Recht dazu.
Selbstverständlich haben auch Medien das Recht, über Banales zu berichten – sogar wenn es eigentlich um ein Produkt der Konkurrenz geht. Diese Banalität weckt merkwürdigerweise immer mehr Beachtung in Redaktionen, deren Zeitschriften und Magazine klassischerweise als ’seriös‘ gelten. Oder galten. Ob Stern, Focus, der Spiegel, die Welt: Sie alle mischen mittlerweile – besonders im Online-Bereich – kräftig mit in der journalistischen Unterwelt des australischen Pseudo-Urwaldes. Sie folgen bereitwillig der Schleimspur, die sich durch Twitter, Facebook oder andere soziale Netzwerke zieht. Früher war Informationsgehalt die wichtigste Währung im publizistischen Geschäft. Heute zählt anscheinend vor allem: blanke Aufmerksamkeit.
Immer weniger Medien – etwa die Fernsehsender ARD und ZDF, die ZEIT, der Freitag – ignorieren das Möchtegern-Prominenten-Gehopse weitgehend und berichten allenfalls knapp und sachlich über das Phänomen ‚Dschungelcamp‘ an sich. Fast mag man fragen: Wie lange halten die das noch durch?
Medien haben eine wesentliche Funktion. Sie sammeln Informationen und bereiten sie auf, so dass sich Menschen innerhalb der Gesellschaft orientieren können. Journalistische Vielfalt begünstigt idealerweise die Entscheidungsfreiheit der Rezipienten – in der Politik wie in anderen Lebenslagen. Lebendige Pressefreiheit ist eine wichtige Stütze in einer funktionierenden Demokratie. Konkurrenz in Kombination mit Respekt vor den überlieferten Werten der Gemeinschaft sollen für eine gewisse Qualität bürgen. Jedoch sind Zeitungen, Zeitschriften und TV-Sender auf die Finanzierung durch Reklame angewiesen. Viele Medien verlieren in Zeiten des Internets Leser – und Werbekunden. Nicht wenige Redaktionen bangen um ihre Existenz.
Schadenfreude statt Mitgefühl. Ekelreize statt subtiler Witz. Tratschende „Zicke“ statt emanzipierte Weiblichkeit. Zeitverschwendung statt kultureller Anspruch. Für mich ist das RTL-Spektakel eigentlich ein Frontalangriff auf die Werte, die einst unsere europäische Zivilisation stark machten. Es ist kaum nachzuvollziehen, warum Medien, die noch einen Ruf zu verlieren haben, mit vollumfänglicher Berichterstattung – bis hin zum Live-Ticker – die PR eines privaten Fernsehsenders bedienen. Gerade in Zeiten wie diesen sollte gelten: Wer Werbung in eigener Sache haben will, der zahlt dafür. Liebe Journalistenkollegen: Es geht nicht nur um euer Berufsethos, sondern auch um eure Zukunft.
© Michael den Hoet
Siehe auch Wikipedia: Dschungelcamp