[Aus: „Buddhismus Heute“, Nr. 47/2009] © Michael den Hoet / Buddhismus Heute
MADRID – Er gilt als Wiedergeburt eines bedeutenden Lehrers. Viele Buddhisten in Ost und West setzten große Hoffnungen in ihn: Ösel Hita Torres, heute 24 Jahre, durchlebte als einer von wenigen Westlern eine strenge, traditionelle tibetische Klostererziehung. Doch die Erwartungen, er werde einst die Nachfolge des berühmten Lama Thubten Yeshe (1935-1984) antreten, erfüllten sich nicht: Der junge Spanier hat seinem Lama-Dasein den Rücken gekehrt – möglicherweise für immer.
Ein Blick zurück, in die frühen 1970er Jahre: Junge Westler, die mit ihrer Freiheit experimentieren und geistige Erfahrungen suchen, bereisen Indien und Nepal. Ähnlich wie Hannah und Ole Nydahl, die hier ihre Verbindung zum Karmapa und dem Tibetischen Buddhismus fanden, zieht es viele der Freaks und Hippies in die nepalesische Hauptstadt Katmandu. Gut ausgebildete Tibetische Lamas gibt es hier einige, doch nur wenige schaffen es, die Blumenkinder dauerhaft vom Hasch weg und hin zu regelmäßiger buddhistischer Meditation zu bewegen. Der Gelugpa-Lama Thubten Yeshe ist einer von ihnen. Mit seiner extrovertierten, humorvollen, aber auch verbindlichen Art zieht er Leute an. Einige seiner westlichen Schüler gründen nach der Rückkehr in ihren Heimatländern Buddhistische Zentren, sie sich in der „Foundation for the Preservation of the Mahayana Tradition“ (FPMT) international vernetzen.
Lama Thubtens sehr naher Schüler Lama Zopa, – er sollte später die Führung der FPMT übernehmen – staunt bei Auslandsreisen nicht schlecht über das unkonventionelle Verhalten seines Mentors: In Hongkong taucht der mit Schlips und Kragen in einem Nachtclub auf um zu beobachten, wie man sich dort die Zeit vertreibt; in der Casinostadt Las Vegas probiert er das Zocken aus; in San Francisco reiht er sich vergnügt in die Gay-Parade ein. Lama Thubten Yeshe will nicht nur die Lehre des Tibetischen Buddhismus vermitteln, sondern auch die teilweise extremen Lebenswelten seiner westlichen Schüler verstehen. Dass er schwer herzkrank ist, lässt er sich nicht anmerken. Spanien hat es ihm besonders angetan. Einem Ehepaar, das nahe Granada ein Meditationszentrum der FPMT betreut, sagt er, dass er in Zukunft viel Zeit hier verbringen wolle. Wenige Monate später stirbt Thubten Yeshe Rinpoche im Alter von 49 Jahren in den USA.
Gut ein Jahr später bekommen die spanischen Eheleute Maria und Paco Torres einen Sohn, dem sie den Namen Ösel (Tibetisch für „Klares Licht“) geben. Die Geburt ist begleitet von intensiven Träumen, in denen ihr Lehrer immer wieder vorkommt. Klein-Ösel ist gerade 14 Monate alt, als Lama Zopa Rinpoche ihn nach Indien holt und Tests mit ihm durchführt. Als er Gegenstände aus dem früheren Besitz von Lama Thubten Yeshe sowie dessen alten Bekannte wieder erkennt, ist bald klar: Der Junge muss der „Tulku“, die Reinkarnation, des beliebten Lehrers sein. Der Dalai Lama gibt ihm die buddhistische Zuflucht.
Was aber passiert nun mit der offiziellen Wiedergeburt des berühmten Lamas? Mit vier Jahren kommt er zur Ausbildung in das Tibetische Exilkloster Sera in Südindien, wird in Roben gesteckt, auf einen Thron gesetzt und verehrt. Aber auf vieles, was für Jungen seines Alters in Europa selbstverständlich ist, muss er verzichten. „Lama Yeshe war ein unglaublicher Lehrer, besonders im Westen“, sagt Ösel Hita Torres heute rückblickend in einem Interview mit der spanischen Kulturzeitschrift „Babylon Magazine“. „Ich wurde zwar im Lehrplan meines Heimatlandes unterrichtet, aber mein einziger Kontakt mit dem Westen war durch Filme.“ Über Jahre verbringt immerhin sein Vater längere Zeit in seiner Nähe. Die wenigen Reisen nach Spanien, die er machen darf, hinterlassen schwer verdaubare Eindrücke. „Wenn ich das Kloster für zwei oder drei Wochen verließ, wurde ich die meiste Zeit in den Zentren herumgereicht und hatte nur vier oder fünf Tage mit meiner Familie, die ich kaum kannte.“ Weder sein Vater noch das Kloster, das seine große Nachwuchshoffnung nicht verlieren will, reagieren auf seine Bitten, gehen zu dürfen. Als er volljährig wird, packt er bald die Koffer – ohne seine buddhistische Ausbildung abgeschlossen zu haben. Ösel Hita Torres: „Ich kehrte nach Spanien zurück, weil ich nicht mehr in dieses Leben passte. Es stand meiner Selbstfindung im Weg, weil es für mich eine Lüge war dort zu sein und etwas zu leben, was mir von außen auferlegt wurde.“
Die Rückkehr in das reale europäische Leben ist hart. Der junge Mann hat noch nie ein küssendes Paar gesehen, der erste Besuch einer verrauchten Diskothek gerät zum Kulturschock. Doch Ösel reist herum, fasst Fuß und entdeckt seine Leidenschaft für das Filmemachen. Heute trägt er langes Haar, spielt in einer Band, hört bevorzugt Reggae-Musik und studiert an der Filmakademie in Madrid. Auch wenn er in ihn gesetzte Erwartungen nicht erfüllen konnte, zeigt sich der junge Tulku heute im Prinzip dankbar für seine Lebenserfahrungen in verschiedenen Kulturen. Ösel Hita Torres spricht wohl überlegt, wenn er resümiert: „Die wörtliche Übersetzung von Lama ist Lehrer, und ich bin kein Lehrer. Ein guter Lama ist jemand, dem es nichts ausmacht, was andere über ihn denken, und der erst an andere denkt, bevor er an sich selbst denkt. Das ist für mich ein Lama: Ein guter Mensch zu sein.“